von Matty Bannond, veröffentlicht ab 17 September 2022 in jazzjournal.co.uk
Freie deutsche Übersetzung. Text in englischer Originalsprache auf der englischen Seite unserer Website.
Nach langer Trockenheit verbreitete sich am 9. September in der Friedenskirche in Ratingen bei starkem Regen ein steiniger Geruch, der durch die weit geöffneten Fenster zog. Im Inneren der Kirche mischte sich der Geruch mit dem Aroma von Malt Whisky. Jeder der 220 Zuhörer erhielt vor dem Konzert des schottischen Tenorsaxophonisten Matt Carmichael und seines Quintetts einen Scotch zur Begrüßung.
Der Whisky wurde 2013 gebrannt, etwa zur gleichen Zeit, als sich die Musiker zum ersten Mal trafen. Heute sind sie Anfang 20 und haben einen unverwechselbaren Sound, der zeitgenössischen Jazz mit Impulsen aus der schottischen Folk-Tradition verbindet. Beim Konzert in Ratingen spielte Carmichael zusammen mit Fergus McCreadie (Klavier), Ali Watson (Kontrabass), Tom Potter (Schlagzeug) und Charlie Stewart (Geige). Sie boten eine atemberaubend lyrische und ausdrucksstarke Darbietung von improvisiertem Musizieren.
Von den ersten Tönen an drang Carmichaels Saxophonstimme wie eine heilige elektrische Ladung in jedes Molekül des modernen roten Backsteinraums. Sein Rubato-Auftakt zu Marram, dem Titelstück seines kommenden Albums, donnerte im tiefen Register. Die Becken zischten wie brechende Wellen. Stewart schlich sich ein und übernahm die Melodie, um dem verschwommenen Zeitgefühl Struktur zu verleihen. Dann nahm Carmichael die Melodie wieder auf, wobei die hohen Töne bis unter das Dach aufstiegen.
Jede Melodie ging in die nächste über, bis Carmichael einfach aufgab, Titel anzusagen. "Es gab keine Setlist", sagte er. "Wir haben einfach in dem Moment entschieden, was wir spielen wollten. Jemand spielte eine Andeutung einer Melodie und wir gingen dazu über, indem wir im Folk-Stil um einen starken melodischen Inhalt herum improvisierten. Einige dieser Melodien sind einfach während des Auftritts entstanden. Sie waren nicht vorgegeben."
Dieser Geist der kollektiven Spontaneität drückte sich im melodischen Wechselspiel und in der Verflechtung der Instrumente aus. Lange Soli waren selten. Die Musiker harmonierten und erkundeten die Melodien miteinander. Auf der Bühne und hinter der Bühne entwickelte sich eine verträumte Atmosphäre. "Es fällt mir leicht, mich zu versetzen und gefühlvoll zu sein, wenn ich spiele", sagte Carmichael. "Und ich möchte, dass mein Saxophonklang die Menschen einfängt, wie eine menschliche Stimme."
Carmichaels Kompositionen vereinen diese Menschlichkeit mit seiner tiefen Verehrung für die schottischen Küstenlandschaften. Die dunklen Farbtöne auf „There Will Be Better Days“ erinnern an das dramatische, ewige Ringen zwischen Land und Meer. "Folkmusik bezieht sich natürlich auf die Landschaft", sagte er.
Irgendwann während des Konzerts hörte der Regen auf und der Whisky ging aus. Niemand bemerkte es. Alle 440 Augen und Ohren waren gefesselt von den herzzerreißenden, erschütternden Gefühlen, die von der Bühne ausstrahlten. Matt Carmichael hat die Kraft, mit jeder Phrase Herzen zu brechen und zu erheben. Die jugendliche schottische Mischung seines Quintetts ist süß, reichhaltig und perfekt ausbalanciert.
Das neue Album „Marram“ wird am 28. Oktober bei Edition Records veröffentlicht.